Liebe Gemeindemitglieder,
der Wind ist zwar kalt, aber die Sonne ist herrlich.
Das Licht bringt Zuversicht ins Haus oder in die Wohnung. Und diese brauchen wir, da wir zuhause bleiben.
Ein Zuhause haben ist für jeden wichtig. Jeder freut sich auf seine eigenen vier Wände, wenn er länger unterwegs war. Es ist ein vertrauter Ort, an dem man „die Füße auf den Tisch legen kann“. Es gibt aber auch Menschen, die halten es zu Hause nicht aus. Für die ist das Zuhause der Ort zum Schlafen, aber sonst sind sie viel unterwegs.
Karl Valentin sagte einmal: „Heute gehe ich mich mal besuchen … mal sehen, ob ich Zuhause bin.“
Ein humorvoller Satz, der es aber in sich hat. Zuhause sein heißt noch lange nicht, präsent sein. Auch zuhause kann man sich ständig wegbewegen, weil man es mit sich nicht aushält. Der Fernseher und das Internet bieten z.B. viele „Reisemöglichkeiten“.
„Eine Krise zeigt dir die Seele einer Person“, sagte aktuell New Yorks Gouverneur Cuomo. Dann lernt der andere einen kennen und wenn man aufmerksam gegenüber sich selbst ist, lernt man auch sich selbst kennen.
Damit wir uns selber kennenlernen, sollten wir als Priesteramtskandidaten jeden Donnerstag im Semester auf unsere Zimmer im Seminar bleiben. „Stiller Donnerstag“ wurde das genannt. Nach dem Abendessen gab es einen geistlichen Impuls und dann war Stille im Haus.
Die Reaktionen waren unterschiedlich: der eine verließ demonstrativ das Haus, um zu zeigen, wie selbstbewusst und autonom er sei. Der andere schlich sich eher heimlich davon. Wieder ein anderer telefonierte den ganzen Abend, der nächste schrieb an seinem Referat für die Uni, das nächsten Morgen gehalten werden musste und dann gab es immer einige, die die Zeit für Stille und Gebet nutzten, entweder in der Hauskapelle oder im Zimmer.
Bei der Einführung ins Seminar sagte uns der Direktor, dass der „Stille Donnerstag“ eine Einübung ins Alleinsein sei. Denn als Priester würde man Abende auch ganz allein verbringen. Das müsse man aushalten können.
Bei einem dieser „Stillen Donnerstag“ gab es als Impuls einen Text von Dietrich Bonhoeffer. Dieser Theologe ist den meisten durch das Gebet „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ bekannt. Am 5. April 1943 wurde er verhaftet und zwei Jahre später auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers als einer der letzten NS-Gegner, die mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 in Verbindung gebracht wurden, hingerichtet. Seine Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft sind in einer extrem schwierigen Situation entstanden.
„Wer bin ich?“ Mit diesen Worten beginnt der Text, eine Frage, die gerade für uns junge Theologiestudenten von großer Wichtigkeit sein sollte. Ich habe mir gemerkt, dass diese Frage immer wieder neu gestellt werden muss und dass es auf sie keine abschließende Antwort gibt. In jeder Lebensphase muss sie neu beantwortet werden. Und die Antwort wird auf jeden Fall situationsgebunden ausfallen.
Es ist lange her, dass ich diesen Text gelesen habe. Jetzt ist er wieder für mich dran:
„Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“Gerade der letzte Satz hat mich seitdem begleitet. Er ist mir mittlerweile zur Gewissheit geworden. Jenseits aller Fragen, auch dann, wenn ich mich nicht mehr kenne oder mich nicht verstehe, hilft mir dieser Satz: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
Ich lade Sie ein, den Psalm 139 heute zu beten:
139 Von David. Ein Psalm.HERR, du hast mich erforscht und kennst mich. /
2 Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. *
Du durchschaust meine Gedanken von fern.
3 Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. *
Du bist vertraut mit all meinen Wegen.
4 Ja, noch nicht ist das Wort auf meiner Zunge, *
siehe, HERR, da hast du es schon völlig erkannt.
5 Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, *
hast auf mich deine Hand gelegt.
6 Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, *
zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
7 Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, *
wohin vor deinem Angesicht fliehen?
8 Wenn ich hinaufstiege zum Himmel - dort bist du; *
wenn ich mich lagerte in der Unterwelt - siehe, da bist du.
9 Nähme ich die Flügel des Morgenrots, *
ließe ich mich nieder am Ende des Meeres,
10 auch dort würde deine Hand mich leiten *
und deine Rechte mich ergreifen.
11 Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen *
und das Licht um mich soll Nacht sein!
12 Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, /
die Nacht leuchtet wie der Tag, *
wie das Licht wird die Finsternis.
13 Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, *
hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. *
Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke.
15 Dir waren meine Glieder nicht verborgen,/
als ich gemacht wurde im Verborgenen, *
gewirkt in den Tiefen der Erde.
16 Als ich noch gestaltlos war, *
sahen mich bereits deine Augen.
In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, *
die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.
17 Wie kostbar sind mir deine Gedanken, Gott! *
Wie gewaltig ist ihre Summe!
18 Wollte ich sie zählen, sie sind zahlreicher als der Sand. *
Ich erwache und noch immer bin ich bei dir.
19 Wolltest du, Gott, doch den Frevler töten! *
Ihr blutgierigen Menschen, weicht von mir!
20 Sie nennen dich in böser Absicht, *
deine Feinde missbrauchen deinen Namen.
21 Sollen mir nicht verhasst sein, HERR, die dich hassen, *
soll ich die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
22 Ganz und gar sind sie mir verhasst, *
auch mir wurden sie zu Feinden.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, *
prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
24 Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, *
leite mich auf dem Weg der Ewigkeit!
Und ich lade Sie ein, sich die Zeit für die Beantwortung dieser Frage zu nehmen. Fertig ist man nie mit ihr, aber vielleicht ist jetzt eine gute Zeit, an ihr zu reifen.
Ich wünsche einen frohen Tag! Ihr Pastor Ferdinand Hempelmann